Handy - Dreizehn Geschichten in alter Manier

Sie kamen in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli, zwischen zwölf und halb eins. Viele werden es nicht gewesen sein, fünf, sechs Kerle vielleicht. Ich hörte nur die Stimmen und das Krachen. Wahrscheinlich haben die gar nicht gemerkt, dass im Bungalow Licht brannte. Die Schlafkammer geht nach hinten raus, und die Vorhänge waren zugezogen. Die erste schwüle Nacht seit langem und der Beginn unserer letzten Urlaubswoche. Ich las noch - Stifter, "Aus der Mappe meines Urgroßvaters".
Constanze war per Telegramm für Dienstag früh um acht nach Berlin in die Zeitung bestellt worden. Anscheinend hatte ihre Sekretärin unsere Adresse herausgerückt. Die Serie über Fontanes Lieblingsorte drohte ins Stocken zu geraten, weil die zugesagten Artikel nicht pünktlich kamen. Das ist halt der Nachteil, wenn man nicht weit wegfährt. Wir beide - ich arbeite in der Sportredaktion, Constanze im Feuilleton - sind mehr oder weniger das ganze Jahr unterwegs und haben keine Lust, auch noch im Urlaub auf Flughäfen herumzusitzen. Letzten Sommer mieteten wir zum ersten Mal diesen Bungalow, zwanzig Mark pro Tag, fünf mal fünf Meter Grundfläche, in Prieros, südöstlich von Berlin, genau 46 Kilometer von unserer Haustür entfernt, ein Eckgrundstück, überall Kiefern, ideal bei Hitze.
Es war komisch, allein dort zu sein. Nicht, dass ich Angst gehabt hätte, aber ich hörte jeden Ast, der herunterfiel, jeden Vogel, der übers Dach hüpfte, jedes Rascheln.
Wie Schüsse knallte es, als sie die Zaunlatten eintraten. Und dieses Gegröle! Ich machte das Licht aus, zog mir die Hose an, ging nach vorn - die Außenjalousie bleibt auch nachts immer oben. Ich sah trotzdem nichts. Plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch. Irgendetwas Schweres war umgekippt. Sie johlten. Zuerst wollte ich das Außenlicht anmachen, um zu zeigen, dass jemand da war und diese Idioten nicht glaubten, sie blieben unbemerkt. Ein paarmal krachte es noch - dann zogen sie weiter.
Selbst an den Beinen spürte ich Schweiß. Ich wusch mir das Gesicht. Vom Bett aus öffnete ich das Fenster. Draußen hatte es sich abgekühlt. Die Kerle waren fast nicht mehr zu hören.
Punkt sieben klingelte mein Handy. Klingeln ist eigentlich der falsche Ausdruck, eher ähnelte es einem immer lauter werdenden "Tülülütüt, tülülütüt", das mir lieb und vertraut war, weil es Constanze ankündigte. Nur sie kannte die Nummer.
Während Constanze davon sprach, wie unerträglich heiß es in Berlin sei, und fragte, warum ich sie nicht daran gehindert hätte, in diese asoziale Stadt zu fahren, ging ich mit dem Handy hinaus in den sonnigen stillen Morgen und besichtigte die Verwüstung. Drei Zaunfelder lagen auf dem Weg. Ein Betonpfosten war kurz über der Erde abgebrochen. Aus dem Stumpf ragten zwei Spiralstäbe. Am Tor hatten die Randalierer die Zeitungsröhre senkrecht gedreht. Direkt darunter entdeckte ich Dach und Rückwand des Vogelhäuschens. Ich zählte sieben eingetretene und vier herausgerissene Latten. Constanze sagte, dass ihr erst jetzt die ganze Gemeinheit des Telegramms klar werde. Ich hätte sie wirklich nicht fahren lassen dürfen.
Um Constanze nicht zu belasten - sie beschleicht sowieso schnell das Gefühl, dies oder das sei ein schlechtes Omen -, verschwieg ich den nächtlichen Besuch. Es wäre auch schwer gewesen, sie zu unterbrechen. Sogar unsere Vorgänger im Bungalow kriegten ihr Fett ab, weil sie die Sicherung herausgeschraubt hatten, ohne an den halb vollen Kühlschrank zu denken. Plötzlich rief Constanze, sie müsse los, sie vermisse mich, sie küsse mich, und legte auf.
Ich kroch wieder ins Bett. Natürlich war dieser Vandalismus nichts, was ich persönlich nehmen musste, und die Erklärung war auch relativ einfach. Die knapp zweitausend Quadratmeter Land, die zu dem Bungalow gehören, sind zur Pacht. Zweitausendeins oder spätestens zweitausendvier ist Schluss, dann müssen unsere Bekannten hier runter, dann endet die Übergangszeit. Deshalb investieren sie schon seit Jahren nichts mehr. An einigen Stellen, an denen das Holz für Nägel zu morsch ist, hält Draht den Zaun zusammen.
Vergangenen Herbst hatte Constanze einen Artikel über die New Yorker Polizei geschrieben, über deren neue Philosophie. Mir fiel das Beispiel von dem Auto ein, das wochenlang unbenutzt am Straßenrand steht. Müll sammelt sich drum herum an, unter den Scheibenwischern klemmen vergilbte Reklamezettel. Eines Morgens fehlt ein Rad, zwei Tage später sind die Nummernschilder weg, bald die restlichen Räder. Eine Scheibe wird eingeschlagen, und schon gibt's kein Halten mehr. Der Wagen geht in Flammen auf. Schlussfolgerung: Es dürfen erst gar keine Schmuddelecken entstehen.
Wenigstens war dieser Zwischenfall Constanze erspart geblieben. Zusammen hätten wir wahrscheinlich eine Unvorsichtigkeit begangen, oder Constanze wäre tagelang deprimiert gewesen, weil wir gekniffen, weil wir uns versteckt hatten. Jetzt aber musste ich etwas unternehmen, sonst würden sie uns heute oder morgen die Scheiben einwerfen.
Ich stand auf, um die Zaunfelder vom Weg zu räumen. Als ich das erste anhob, fiel es auseinander. Mit den herausragenden Nägeln erinnerten mich die Latten an das Waffenarsenal Thomas Müntzers. Erst warf ich sie alle auf einen Haufen. Dann begann ich, sie zum Schuppen zu tragen. Die Latten liegen zu lassen, für jeden greifbar, war zu gefährlich. Vielleicht übertrieb ich. Fakt aber war, dass jetzt nicht mal mehr eine symbolische Schranke den Bungalow schützte.
In dieser Situation fand ich es gut, ein Handy zu besitzen. Ich hatte das von Constanze gehütete Kuvert, in dem alle Handy-Unterlagen steckten, mit nach Prieros genommen und endlich gelernt, wie man die Mailbox aktiviert - als Überraschung für Constanze.
Das "Hallo!" einer Männerstimme schreckte mich auf. Mittelgroß, in Badeschuhen und Pullover, stand er an der Pforte und fragte, was die Randalierer denn bei uns angerichtet hätten.
An seinem Zaun fehlten zwei Latten. "Ein Jägerzaun", sagte er. "Wissen Sie, was man da für Kraft braucht?" Am schlimmsten war für ihn die Delle in der Kühlerhaube seines Fiat Punto. Lange habe er nach dem Wurfgeschoss gesucht, aber nichts gefunden. Seine Igelfrisur stand ihm wie eine Pelzkappe über der Stirn.
"Immer in den Ferien passiert das", sagte er. "Alles junge Leute. Immer in den Ferien."
Ich führte ihn herum. Er nahm seine Inspektion sehr genau, er ging sogar mehrmals in die Hocke, als suche er nach Spuren. Er fand noch Teile des Vogelhäuschens, brachte die Zeitungsröhre wieder in die Waagerechte und half mir mit den Zaunresten. Schon in der Nacht hatte er die Polizei verständigt und offenbar nicht locker gelassen, bis man ihm versprochen hatte, jemanden zu schicken.
"Eins müssen Sie wissen", sagte er. "Für die sind das Lappalien. So unterbesetzt, wie die sind, total unterbesetzt."
Ihn interessierte, was ich über die New Yorker Polizei erzählte, und ich versprach, ihm Constanzes Artikel zu schicken.
"Geben Sie mir Ihre Handynummer?", fragte er plötzlich.
"Meine Handynummer? Die weiß ich gar nicht."
Sein Stirnrunzeln zog die Borstenhaare so tief herab, dass sich die vordersten auf mich richteten.
"Da muss ich nachsehen", sagte ich und fragte, was er plane, falls die Kerle wiederkommen sollten.
"Erst mal verständigen", sagte er.
"Das kann nicht schaden", sagte ich.
Im Bungalow setzte ich mich mit dem Kuvert in der Hand aufs Bett. Alle meine Kollegen besaßen Handys. Ich verstand nicht, warum sie sich das antaten. Ich hatte nie ein Handy gewollt, bis Constanze auf die Idee mit dem One-Way-Handy gekommen war. Anrufen - ja, angerufen werden - nein, mit Ausnahme von ihr natürlich.
Beim Abschreiben bemerkte ich, dass meine Nummer auf 007 endete.
"Ich heiße übrigens Neumann", sagte er und hielt mir einen Kassenzettel hin, auf den er seine Nummer gekritzelt hatte. Im selben Moment klingelte es. Hastig grüßend, machte er sich davon.
In der Redaktion war so ziemlich alles schiefgelaufen. Constanze musste in Berlin bleiben, zumindest bis übermorgen. Sie sagte, dass es wegen der Abschiebungen auch feuilleton-intern Zoff gebe. Ich hatte keine Ahnung, von welchen Abschiebungen sie sprach. Wir hörten kein Radio, weil die UKW-Taste fehlte.
Constanze war immer noch wütend und meinte, dass die Herren Kollegen die Niederlage gegen die Kroaten bei der Fußball-WM einfach nicht verkraftet hätten und sich deshalb so aufspielten.
Ich berichtete ihr von letzter Nacht. Sie sagte nur: "Dann komm doch."
"Ja", antwortete ich, "morgen." Ich wollte nicht als Feigling dastehen. Außerdem war die Hitze hier wesentlich besser auszuhalten.
Ich räumte auf. Falls die Polizei wirklich erschien, sollten sie nicht denken, es sei sowieso egal, ob was eingetreten werde oder nicht. Ich würde auch sagen, dass unsere Vermieter den Boden nur gepachtet hatten, denn hier handle es sich um ein Westgrundstück. Zum Schluss kehrte ich die Terrasse.
Am Nachmittag sprach ich noch mit anderen aus der Nachbarschaft. Wir vereinbarten, nachts alle verfügbaren Lampen anzulassen. Unsere Wagen postierten wir so, dass die Scheinwerfer zum Zaun zeigten und wir die Kerle plötzlich blenden und vielleicht fotografieren könnten. Wir handelten nach der Devise: Leute, Lärm, Licht. Zwischen uns Bungalowbewohnern hatte sich eine Art Wildwest-Solidarität entwickelt. Die Polizei ließ sich nicht blicken, worüber niemand mehr ein Wort verlor.
Aus einer Art Dankbarkeit wählte ich Neumanns Nummer. Die Vorstellung, mit jemandem per Satellit, also über das Weltall, verbunden zu sein, hatte mich schon früher berauscht. Dass wir Nachbarn waren, keine dreihundert Meter voneinander entfernt, machte die Sache nur noch phantastischer. Anstelle von Neumann sagte eine Frau: "Das ist die Mailbox von", eine Pause folgte, und dann hörte ich in galaktischer Verlorenheit die Worte "Harald Neumann". Eine Gänsehaut zog sich meine Arme hinauf bis zu den Schultern. Natürlich wirken auch Freunde auf ihren Anrufbeantwortern oft verstört oder niedergeschlagen. Aber Neumann klang nicht nur deprimiert, sondern als schämte er sich, überhaupt einen Namen zu tragen.
Wenig später gab es ein kurzes Gewitter. Ich sah Neumann mit einem Korb voller Pilze aus dem Wald kommen. Schon von Weitem rief er: "Wie Rüben!" Er meinte wohl, dass man bei solchem Wetter die Pilze einsammeln könnte, als würde man Rüben ernten, oder dass sie so groß seien wie Rüben. Er lud mich zum Essen ein.
Im Vergleich zu unserer Bude war sein Bungalow ein kleiner Palast, mit Fernseher und Stereoanlage, Ledersesseln und zwei Barhockern. Neumann servierte Rotwein und Weißbrot zu den Pilzen. Danach spielten wir Schach und rauchten zusammen eine ganze Schachtel Club. Es schien zwischen dem Neumann vor mir und dem, der seinen Namen auf der Mailbox aufsagte, keinen Zusammenhang zu geben. Trotzdem scheute ich mich, ihn nach Familie oder Beruf zu fragen.
Gegen Abend färbten sich die Wolken über dem See rosa. Ich legte mir die große Handlampe zurecht und Neumanns Nummer.
Nach zehn flackerten die Blitze so regelmäßig wie ein Warnlicht. Ein Wolkenbruch folgte. Spätestens da war mir klar, dass in dieser Nacht niemand käme.
Am nächsten Vormittag packte ich alles zusammen, wischte noch mal durch und verabschiedete mich von den Nachbarn. Neumann traf ich nicht an. Wahrscheinlich war er wieder im Wald. Ich glaube nicht, dass die Leute den Eindruck hatten, ich sei ein Feigling. Sie sahen ja, dass Constanze nicht mehr da war. Schwierig gestaltete sich dagegen das Telefonat mit unseren Vermietern. Ich solle mich um den Zaun kümmern, im Schuppen lägen noch Pfähle. Aber schon für den Kühlschrank war ein ganzer Vormittag draufgegangen, das reichte.
Ende September klingelte das Handy mitten in der Nacht. Im ersten Moment dachte ich, es sei dieses Piepen, das den leeren Akku anzeigt. Doch das "Tülülütüt" wurde mit jedem Mal lauter. Im Dunkeln suchte ich meinen Nachttisch ab. Mit der Kuppe des Zeigefingers fuhr ich über die Tasten - ich brauchte die mittlere in der zweiten Reihe von oben. Das Rufsignal war unerträglich laut geworden.
"Die Kerle sind wieder da. Die lassen's krachen!" Und nach einer kurzen Pause: "Hallo! Hier ist Neumann! Es kracht wieder! Hörn Sie?"
"Ich bin doch gar nicht mehr da!", sagte ich schließlich.
"Die lassen's krachen!C
Auf Constanzes Seite ging das Licht an. Sie saß auf dem Bettrand und schüttelte den Kopf. Mit der freien Hand deckte ich den Sprechschlitz ab. "Ein Nachbar aus Prieros." Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Den Tausch der Nummern hatte ich nie erwähnt, weil wir sowieso nicht mehr nach Prieros fahren würden.
"Sind Sie allein?"
"Einer muss doch die Stellung halten!", rief Neumann.
"Sie sind allein?"
"Die knacken meinen Zaun, die Dreckskerle!"
"Haben Sie die Polizei gerufen?"
Neumann lachte auf und musste husten. "Sie sind gut ?" Es klang, als würde er trinken. Ich hatte ihm Constanzes Artikel über New York nie geschickt.
"Was wollen Sie?", fragte ich.
"Hörn Sie mal, wie das kracht!"
Ich presste den Hörer ans Ohr, doch vergeblich.
"Jetzt sind sie am Briefkasten", rief er und schien wieder einen Schluck zu nehmen. "Da müssen sie sich ganz schön anstrengen. Nicht mal zu zweit schaffen die Armleuchter das. Das reicht jetzt, jetzt ist Schluss ?"
"Bleiben Sie, wo Sie sind!", rief ich.
Constanze stand in der Tür und zeigte mir einen Vogel. Im Flur sagte sie dann etwas, was ich nicht verstand.
"Hallo?", fragte Neumann.
"Ja", sagte ich. Oder meinte er die Kerle am Zaun? "Bleiben Sie drin!", rief ich. "Spielen Sie nicht den Helden!"
"Sie sind weg", sagte er und lachte. "Keiner zu sehn, sind abgehauen, haben Schiss gekriegt!" Ich hörte deutlich, wie Neumann trank und wie er die Flasche absetzte. "Diese Armleuchter", keuchte er.
"Sie dürfen da nicht allein ?"
"Wie geht's Ihnen denn so?", unterbrach er mich in fast heiterem Tonfall.
"Bleiben Sie im Haus", sagte ich. "Sie dürfen da nicht alleine rausfahren, am Wochenende vielleicht, aber nicht werktags!"
"Wann kommen Sie denn wieder mal her? Wir haben noch eine Partie offen. Oder wollen wir Fernschach spielen? Geben Sie mir Ihre Adresse? Ich hab Pilze getrocknet, einen ganzen Sack voll."
"Herr Neumann", sagte ich und wusste nicht weiter.
"Die Tonne", brüllte er plötzlich. "Meine Mülltonne!"
"Lassen Sie doch die Tonne", sagte ich. "Die ist nicht wichtig!" Ein paarmal rief ich "Hallo?" und "Herr Neumann?". Dann war nur noch ein Tuten zu hören, und auf dem Display stand: Verbindung beendet.
Constanze kam zurück ins Zimmer, legte sich auf ihre Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und zog sich die Decke über die Schultern. Ich versuchte ihr das Ganze zu erklären - dass ich erst gezögert hatte, aber schließlich sogar froh gewesen war, im Notfall einen Nachbarn um Hilfe bitten zu können. Constanze rührte sich nicht. Ich sagte, dass ich mir Sorgen um Neumann mache.
"Vielleicht ruft er ja wieder an", antwortete sie. "Wird wohl jetzt öfter passieren. Aber du gibst ja niemandem die Nummer."
Ich glaube, in solchen Augenblicken sind wir beide derart voneinander enttäuscht, dass wir uns hassen.
Ich ging in mein Arbeitszimmer, um das Ladegerät für das Handy zu holen.
"Und wenn er deine Nummer weitergibt?" Constanze drehte sich herum und stützte sich auf.
"Warum sollte er denn?"
"Stell dir das mal vor!"
"Constanze", sagte ich. "Das ist Blödsinn."
"Du sollst es dir nur mal vorstellen!" Sie zog den Träger ihres Nachthemds, der ihr von der linken Schulter gerutscht war, wieder hoch. Aber er hielt nicht.
"Wer uns da alles anrufen könnte", sagte sie, "alles solche Nachbarn!"
"Unsere Nummer steht im Telefonbuch, eine ganz normale Nummer. Jeder kann uns anrufen."
"Das meine ich doch nicht. Wenn da ein Haus abbrennt oder bombardiert wird und einer rennt raus, mit nichts als seinem Handy, weil er es zufällig in der Tasche hat. Dann kannst du jetzt mit ihm reden."
Ich drückte den Stecker des Ladegeräts in die Verteilerdose neben dem Bett.
"Das kann durchaus passieren", sagte Constanze. Sie bekam wieder ihren Gouvernantenton. "Dich ruft jemand aus dem Kosovo an oder aus Tschetschenien oder von da, wo diese Springflut war. Oder einer von denen, die auf dem Mount Everest erfroren sind. Jetzt kannst du mit ihm reden bis zum Schluss, bis endgültig Schluss ist."
Sie sprach weiter, auf den Ellbogen gestützt, mit nackter linker Schulter, und starrte auf den Kissenzipfel, der schräg nach oben stand. "Stell dir mal vor, mit wem du es dann alles zu tun bekommst! Niemand muss mehr allein sein."
Es war sinnlos, die Auskunft anzurufen, weil es sinnlos war, Neumann anzurufen. Ich weiß nicht, was unangenehmer gewesen wäre, ihn zu erreichen oder noch einmal hören zu müssen, wie er seinen Namen auf der Mailbox nannte.
Auf dem Display erschien das Zeichen für das Aufladen: Die Umrisse einer kleinen Batterie, über die in drei Stufen ein schräger Balken wandert. Das war das Letzte, was ich sah, bevor ich das Licht ausmachte. Im Dunkeln sagte Constanze: "Ich glaub, ich lass mich scheiden."
Ich hörte auf ihren Atem und ihre Bewegungen und wartete auf das "Tülülütüt".
Die Jalousie des Zeitungskiosks hatte schon gerattert, als sich unsere Hände zufällig berührten. Es brauchte noch mal eine Ewigkeit, bis wir uns aneinander heranwagten. Dann jedoch fielen wir übereinander her wie schon lange nicht mehr, als hätte uns die Schlaflosigkeit verrückt gemacht.
Irgendwann begann das "Tülülütüt". Es kam von weit her, wie das Rufzeichen eines Raumschiffs, leise und undeutlich, erst allmählich drang es näher, wurde lauter und immer lauter, um schließlich alles andere zu übertönen, so dass es mir schien, als bewegten Constanze und ich uns völlig lautlos. Nur dieses "Tülülütüt" war zu hören - bis es plötzlich abbrach und Ruhe gab und schwieg, wie wir.